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Wahrnehmung & bewusstes Sein

Updated: Jul 9, 2021

Wer sich schon einmal ein bisschen mit Wildnispädagogik, Überlebenstraining oder schlicht „Naturerfahrung“ beschäftigt hat, wird über etwas gestolpert sein, das sich „Wahrnehmungsübungen“ nennt. Es gibt unendlich viele davon – von „Sitzplatz“ über „Baumwipfel-„ und „Barfuß-Pfad“, „Fox-Walk“ („Fuchs-Spaziergang“) und Tast-Übungen im Dickicht mit Schlafmaske über den Augen bis hin zu Spurensuche, „Drum-Stalk“ (sich mit verbundenen Augen Nachts im Wald am Schlag einer Trommel orientieren, bis man zu ihr gefunden hat) und „Aroma-Fährte“ (die man sich ebenfalls mit verbundenen Augen durch irgendein natürliches Gelände erschnuppern muss). Diese Übungen sind für jeden unterschiedlich herausfordernd. Für nicht wenige Teilnehmer geht es bei diesen Übungen entsprechend darum, Ängste zu überwinden. Den anderen sollen sie helfen, „in die Präsenz“ zu gelangen, in den Augenblick, ins Da-sein.

Wenn du meinen Artikel über den spirituellen Bypass gelesen hast, ahnst Du schon, dass Wahrnehmungsübungen genau wie „spirituelle Praktiken“ zwei Seiten haben können – je nach dem, wie es um das Nervensystem des einzelnen „Anwenders“ oder Teilnehmers steht. Ängste sind nicht ohne Grund vorhanden. Und wenn Angst schlicht und ergreifend durch Dissoziation „überwunden“ wird (was man von außen nicht sieht und was dem Betroffenen nicht bewusst ist, was er nicht merkt!), können auch Wahrnehmungsübungen sehr leicht genau das Gegenteil dessen bewirken, was sie bewirken sollen. Ängste werden dann nicht überwunden und „in die Präsenz kommen“ (und damit nicht zuletzt auch in Berührung mit dem Wilden, authentischen Selbst) ist im Zustand der Dissoziation unmöglich.


Warum Wahrnehmungsübungen dennoch der Schlüssel sind


Wahrnehmungsübungen „benutzen“ Deine Sinne. Wo diese Sinne an Deinen „Grenzen“ zur äußeren Welt enden, bist Du mit dieser äußeren Welt in Kontakt – also in Berührung. Genau das ermöglicht ein Nerv. Er hat ein oder mehrere Enden und führt von hier nach da, damit über ihn Informationen fließen können. Ein Teil dieser Informationen fließt (wahrscheinlich) nur innerhalb von Dir, ein anderer Teil zwischen Dir und Deinem Außen.


Ich schreibe „wahrscheinlich“, weil wir nicht davon ausgehen können, dass wir über die Fähigkeiten unseres Nervensystems, über unsere Sinne und unsere Kontaktmöglichkeiten schon alles wissen. Wir wissen einiges, aber wir wissen nicht, wie viel das vom tatsächlichen Ganzen ist. Oder wie umfangreich das tatsächliche Ganze ist. Wir wissen nicht einmal, ob Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten die einzigen Sinne sind, die uns zur Verfügung stehen – unter bestimmten Umständen gehen wir lediglich davon aus. Unter bestimmten anderen Umständen tun wir das nicht.


Wahrnehmungsübungen und Neuroplastizität


Wenn wir geboren werden, verfügen wir über das zum Geburtszeitpunkt am wenigsten entwickelte Nervensystem im gesamten Tierreich. Die „Schaltkreise“, "Datenautobahnen" und Kontakte innerhalb von uns selbst und zwischen unserem Inneren und unserem Außen müssen sich erst entwickeln. Dabei entwickeln sie sich in Anpassung an das Außen – deshalb bestimmt die Umgebung (insbesondere unsere soziale Umgebung), was für "Schaltkreise" und "Datenautobahnen" ("Anbindungen" zwischen Nervenzellen) wachsen. Das geschieht nach dem Motto „was gemeinsam aktiv ist, wächst zusammen“, sowohl in uns als auch zwischen uns und „außen“.


Ganz ursprünglich sind wir für „kleine, friedliche Unterstützungsgemeinschaften in friedlichen, natürlichen Räumen“ designt. Wer glaubt, dass sich unsere Vorfahren im ständigen Überlebenskampf befanden, irrt gewaltig – auch wenn es Hungerzeiten, kalte Winter, Auseinandersetzungen mit gefährlichen Tieren und feindlichen Clans gab. Es waren dies aber Ausnahmesituationen – sie waren nicht alltäglich, und sie dauerten nicht über längere Zeit an. Deshalb sind die Notfallprogramme unseres Nervensystems – Fight, Flight, Freeze und Faint (Kampf, Flucht, „Einfrieren/Ausschalten/Dissoziation“ und Ohnmacht) – eben auch Notfall-Programme und kein gesunder Dauerzustand.


Weder unsere soziale noch unsere sonstige Umgebung entspricht mehr einer „kleinen friedlichen Unterstützungsgemeinschaft in friedlichem, natürlichem Raum“. Im Einzelfall mag es für Familien möglich sein, einen solchen Raum für den Nachwuchs zu kreieren – die weit überwiegende Mehrzahl von uns ist aber in Umfeldern aufgewachsen, die ganz oder mehr oder weniger teilweise in einer andauernden oder einer Reihe von sich wiederholenden Ausnahmesituationen bestanden. Aus den unterschiedlichsten Gründen – von Abwesenheit, Erkrankung oder psychischen Problemen eines oder mehrerer Bezugspersonen über Trennungen von Bezugspersonen bis hin zu Missbrauchskonstellationen jeder Art, Unfälle u.ä. Aus der Verhaltensbiologie weiß man zudem, dass „schlimme Dinge“ dieselben negativen Auswirkungen haben können wie gute Dinge, die nicht passiert sind. Das ist so, weil das Nervensystem diese „guten Dinge“ eben braucht, um an diesen guten Dingen entlang in eine ebenso gute „Form“ wachsen zu können. Das darfst Du Dir fast wie das Wachsen einer Kletterpflanze vorstellen – sie braucht ein Spalier, an dem sie entlangwachsen kann; mit dem Ziel, selbst die Stabilität des Spaliers zu erlangen, um dann in sich selbst stabil existieren zu können.


Wenn das Spalier nicht sicher ist ...


… wächst die Kletterpflanze Nervensystem trotzdem an ihm entlang – aber eben in Anpassung an die Instabilität in sich instabil. Weil Nerven-Anbindungen fehlen, Nervenenden fehlen, autonome Notfallprogramme automatisch „gewohnheitsmäßig“ laufen usw. Die Auswirkungen sind in Art und Ausprägung individuell und dennoch immer gleich – und während die Anpassung der einen auf mehr oder weniger ständige Alarmbereitschaft hinausläuft, führt sie bei anderen zu mehr oder weniger ständiger Selbstbetäubung. Die Anpassung daran zeigt sich schließlich in „psychischen Störungen“, chronischen Krankheiten, Sucht und Abhängigkeit (nicht nur von „illegalen“ Drogen), Kriminalität, Beziehungsproblemen und allen möglichen größeren und kleineren „Schwierigkeiten“ in sämtlichen denkbaren Bereichen.


Wahrnehmungsübungen – Upgrade für Dein Nervensystem


Wenn wir unsere Wahrnehmung schulen, benutzen wir in Bezug auf unsere Sinne das, was uns an Kontaktmöglichkeiten nach innen und außen zur Verfügung steht. Egal was und wie viel das wovon ist. Es ist gleichgültig, von welchem Punkt oder auf welchem Level du startest – du arbeitest mit dem, was du hast, und der Witz daran ist, dass du, sobald du mit dem arbeitest, was du hast, nur Verbesserung erzielen kannst. Selbst dann, wenn du etwas noch gar nicht kannst, kannst du nicht verhindern, dass du gut und immer besser darin wirst, wenn und indem du es tust. Das verbirgt sich hinter dem wundervollen Wort Neuroplastizität. Aufgrund von Neuroplastizität verfügen wir über alle Fähigkeiten und Gewohnheiten, die wir haben – ganz gleich, ob die uns dienen oder nicht dienen. Neuroplastizität integriert Lernen sowohl in positive als auch in negative Richtung. Aber damit ermöglicht Neuroplastizität eben auch, dass wir umlernen können, Gewohnheiten und „Fähigkeiten“, die uns nicht dienen, zum Positiven verändern können. Auf Neuroplastizität basiert das, was man ganzheitliche Heilung nennt, weil das jeweilige Individuum in all seinen „Schichten“, all seinen Ebenen heilt – Körper, Geist, Seele und darüber hinaus. Sie ermöglicht damit nicht zuletzt die Begegnung und das in Berührung kommen mit Deinem Wilden, authentischen Selbst, denn dieses besteht in der Ein-heit – im Eins sein – aller Deiner „Ebenen“.


Falls Du Dich für spirituelle Praktiken interessierst, nach der Lektüre meines Artikels über spirituellen Bypass aber weißt oder es für möglich hältst, dass Du Meditation, Atemübungen und andere mehr oder weniger „spirituelle“ Herangehensweisen an Belastungsthemen eigentlich (und unbewusst) zur Dissoziation „nutzt“, kannst Du mithilfe von Wahrnehmungsübungen Dein Nervensystem für spirituelle Praktiken vorbereiten und es befähigen. Wahrnehmungsübungen entwickeln Deine Kontaktfähigkeit sowohl nach innen als auch nach außen, und sie tun das, indem sie die Kapazität und Leistungsfähigkeit Deines Kontakt- bzw. Resonanz-Organs (eben Deines Nervensystems) vergrößern und erweitern. Damit Du aus spirituellen Praktiken für Dich „herausholen“ kannst, was spirituelle Praktiken ermöglichen können, bist Du auf die Leistungsfähigkeit und Kapazität deines Nervensystems angewiesen. Wenn Dein Verbindungsorgan aber nur „Notfallprogramm“ leisten kann, schaffst Du die zugrunde liegenden Problematiken nicht aus der Welt, sondern hältst an ihnen fest – auch wenn Du das Gegenteil willst. Das autonome Nervensystem agiert an Deinem Willen vorbei.


Worauf achten bei Wahrnehmungsübungen?


Wie so oft kommt es bei Wahrnehmungstraining nicht auf das Ob an, sondern auf das Wie. Je nach Beschaffenheit Deines Nervensystems – und insbesondere, wenn Du ein Trauma mit Dir herumschleppst, ein vorgeburtliches oder (früh)kindliches Trauma, ein Schocktrauma, chronischen Stress oder/und eine chronische Erkrankung – tust Du gut daran, behutsam in diese Übungen zu gehen und vor allem Ängste nicht zu ignorieren und auch nicht zu unterdrücken. Auch nicht unbewusst. Auf Dich zu hören ist der erste Schritt in Richtung der Anbindung an Dich selbst und an Dein Außen – und im Grunde die allererste und wichtigste Wahrnehmungsübung, die Du Dir vornehmen kannst.


Grundregel: fang klein an. Beginne mit dem, was schon fast langweilig ist, weil Du glaubst, dass Du es kennst. Glaub mir, Du kennst es mit ziemlicher Sicherheit nicht. Nicht in seiner Tiefe, nicht in seiner Tragweite, nicht in seiner langfristigen Wirkung.


Anleitungen in Sachen Wahrnehmungstraining findest Du in meinem Online-Kurs Wahrnehmungstraining.

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