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Die Pipestone Wölfe: unbedingt lesen!

Es gibt Bücher, die sind magisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer sich auf sie einlässt, dem eröffnen sie Welten und Horizonte, Abgründe und Untiefen, Ideen und Visionen – und Erkenntnis, die sich nicht nur in Worten, sondern gerade auch zwischen den Zeilen ausdrückt. Ein Must-Read in diesem Sinne sind „Die Pipestone Wölfe“ von Günther Bloch. Ein Buch, das Fachbuch, Bildband und Lebensgeschichte in einem ist, das teilhaben lässt an wahren Begebenheiten, tiefen Gefühlen und dem Staunen über das, was man nie für möglich gehalten hätte. Ein Buch, das als das Lebenswerk eines Autors gelten darf, der sich mit jeder Faser der wissenschaftlichen Freilandforschung verschrieben und sich dennoch erlaubt hat, sein ganzes Herz ans Studienobjekt zu verlieren.


Sich selbst begegnet man erst, wenn man sich im Auge eines Lebewesens widerspiegelt, das kein Mensch ist, sagte der US-amerikanische Anthropologe, Philosoph und Autor Loren C. Eiseley einmal, und möglicherweise ist es genau diese Art von Begegnung, die manche Dinge für immer verändert. Im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung und ziemlich unbegrenzter technischer Möglichkeiten scheinen Forscher Begegnungen mit ihren nicht-menschlichen Studienobjekten vermehrt zu scheuen: denn Dank Fotofalle, GPS und Sendehalsband lassen sich allerhand Daten zusammentragen, ohne den heimischen Schreibtisch verlassen zu müssen.


Der Preis, den die Wissenschaft und all jene, deren Arbeit auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, dafür zahlen, ist unter Umständen ganz schön hoch. Denn wer nur „etwas“ erforscht und nicht jemanden, zieht leicht reichlich allgemeine, unpersönliche Schlüsse. Und dann passiert genau das, was Günther Bloch so vertraut ist: Man glaubt, zu wissen wie „der Wolf“ sei oder was er mache, wenn ... – oder auch nicht. Nur um ein ums andere Mal zu erleben, dass just ein Wolf auftaucht, der die ganze schöne Erkenntnis über den Haufen schmeißt.


"Die Pipestone Wölfe" - Günther Blochs Lebenswerk


„Langzeitforschung in der natürlichen Umgebung der beobachteten Tiere ist die eine Säule, die mir in meiner Arbeit immer wichtig war und ist“, sagt Günther, als wir über den großen Teich telefonieren, denn der Wolfsforscher lebt mittlerweile dauerhaft in Kanada. „Man muss das Individuum kennenlernen, ebenso den Lebensraum, und man muss jedes Verhalten in den Kontext zu den anderen vorhandenen Tierarten – und den Menschen – setzen. Womit wir bei der zweiten Säule sind: Man muss rausgehen und gucken, was das Individuum wirklich tut – Stunde um Stunde, Tag für Tag, über Jahre hinweg. Man braucht also auch eine riesengroße Portion echten und ehrlichen Enthusiasmus. So viele Verhaltensdetails, wie man dann zu Gesicht bekommt, liefert kein GPS der Welt.“


Bei der Pipestone & Banffstand Wolfsfamilie hat die Technik eine ganze Menge nicht aufgezeichnet. Entsprechend groß sind so manche Überraschungen in einem Buch, das ihnen gewidmet ist: "Die Pipestone Wölfe".


Judith: Ich muss ja gestehen, dass ich grundsätzlich ein großer Fan Deiner Bücher bin – sorry, dass ich Dir jetzt Honig um's Maul schmiere. Dennoch sind „Die Pipestone Wölfe“ für sich genommen etwas Besonderes. Textlich eine Verhaltensstudie ebenso wie ein Familienepos voller Freundschaft, Liebe, Verlust, Trauer, Aufopferung und Lebensfreude … ein Plädoyer und eine Hommage zugleich. Fotografisch ein Meisterwerk, in dem der Fotograf John Marriot hinter jedem gelben Augenpaar die Person im Wolfspelz eingefangen hat. Warum hast Du das Buch geschrieben?


Günther: Ich wollte mich für „unsere“ Wölfe einsetzen. Ich wollte einer breiten Öffentlichkeit stellvertretend die Lebenssituation angeblich geschützter Tiere vor Augen führen. Der Schutz der Tierwelt in den Nationalparks der kanadischen Rocky Mountains – und nicht nur hier – steht größtenteils leider nur auf dem Papier. Tatsächlich definieren Befindlichkeiten, wirtschaftliche Maximal-Gewinnorientierung und des Menschen ganze Respektlosigkeit vielmals die Umstände, mit denen Wölfe zurechtkommen müssen, ganz gleich wo sie leben. Ich hege die vage Hoffnung, dass mein Buch aufrüttelt und zum Umdenken veranlasst – auch in Deutschland – dass es die Bereitschaft fördert, sich auf die Anwesenheit des Wolfes einzulassen und ihn so zu sehen wie er wirklich ist. Frei von esoterischen Verklärungen und auch frei von den grausamen Märchen, die noch immer über ihn genährt werden. Ein ganz besonderes Anliegen ist mir auch, die Frage nach dem vielbeschworenen „sanften Tierbeobachtungs-Tourismus“ zu stellen. Wo beginnt er und vor allem wo muss er enden, damit die Tierwelt nicht tatsächlich massiv darunter leidet.


Außerdem wollte ich die Öffentlichkeit an der Komplexität der Arbeit mit unseren wunderbaren Hunden Chinook, Jasper und letztlich Timber teilhaben lassen, die uns bei der Wolfsforschung tagtäglich so freudig unterstützt haben – ohne von uns speziell ausgebildet worden zu sein. Mich persönlich macht es beinahe ehrfürchtig, wenn ich darüber nachdenke, was im Kopf und im Herzen meiner Hunde vor sich gegangen sein muss, als sie verstanden, worum es uns bei der Erforschung wilder Wölfe ging und entschieden, ihren Teil beizutragen. Es hat sich beileibe nicht jeder unserer Hunde am „Gruppenziel“ beteiligt – unsere Owtscharkshündin Raissa zum Beispiel hat mit Vorliebe geschlafen, wenn wir auf Beobachtungstour waren. Unsere Dackelhündin Kashtin saß im Auto bevorzugt genießend auf dem Schoss meiner Frau … aber unsere drei Laiki haben mich jeder auf seine ganz ureigene Weise so oft staunen lassen – ein ums andere Mal. Und die hatten echt Spaß an ihrem „selbstgewählten“ Job.


Worin liegt aus Deiner Sicht die Kunst des Beobachtens?


Im Respekt. Im Respekt der Natur als solcher und dem Individuum gegenüber. Und in der Passion, der Leidenschaft, die man einfach als Grundvoraussetzung mitbringen muss. Die Spezies macht da keinen Unterschied für mich – ich beobachte zum Beispiel die Fasane hinter meinem Haus genauso oft und genauso gern wie die Wölfe oder andere Tiere draußen „in der Wildnis“. Ist unsere zurzeit siebenköpfige Fasanenfamilie auf unserem riesigen Gelände da, erfreuen wir uns an ihrer Präsenz und unsere Hunde bleiben drinnen im Haus und ich gehe eben später mit ihnen spazieren.


Den Respekt vermisse ich oft bei vielen Menschen, die sich als Tier- oder auch als Naturfreunde bezeichnen. Du glaubst gar nicht, wie rücksichtslos zum Beispiel Touristen im Banff Nationalpark agieren können. Die rasen wie die Irren die viel berühmte Parkstraße, den Bow Valley Parkway, entlang, obwohl sie genau sehen, dass ein Wolfswelpe auf dem Mittelstreifen geht und gerade den Anschluss an seine Familie verliert, während sie ihn überholen. Dann springen sie sogar noch aus dem Auto und rennen den Wölfen hinterher, um Fotos zu machen. Sie bedrängen Tiere ohne jegliche Rücksicht. Und es hat kaum Konsequenzen. Die Parkverwaltung hängt sogar noch Hinweisschilder auf, wo sich Wolfshöhlen befinden, wohl wissend, dass die Parkbesucher dann erst recht wissen, wo sie suchen müssen und dass sie, die Ranger, nicht vor Ort sein werden, um das zu verhindern. In unserer schönen bunten Dienstleistungswelt werden wir alle Nase lang gefragt „Was kann ich für Sie tun?“. Ich wünschte, die Menschen würden das auch mal fragen, wenn sie einem Wildtier begegnen. Das brächte uns in Sachen Respekt einen gewaltigen Schritt nach vorn.


Du bist den „Pipestones“ und „Townies“ aber auch recht nahe gekommen – wie hast Du das gemacht?


Wir haben Afrikas „Safari-Konzept“ nach Kanada geholt und die Tiere vom Auto aus beobachtet – wie vor Jahren auch schon die „Pizzahunde“ in der Toscana. Wir sind den Wölfen aber nicht hinterhergefahren, im Gegenteil. Wir sind konsequent auf Abstand gegangen, sobald sie auftauchten und haben sie aus der Entfernung und über sehr lange Zeit erst einmal mit Teleobjektiven „verfolgt“. Die Wölfe haben sich auf diese Weise an uns gewöhnt und irgendwann kaum noch Scheu vor dem Fahrzeug gezeigt. Sie haben sich nach und nach immer adaptiver verhalten, als wären wir gar nicht da, auch in unmittelbarer Nähe unseres Autos – dem sie sich wohlgemerkt selbst näherten. Deshalb sind John Marriot auch so großartige Fotos gelungen. Und uns so viele atemberaubende Geschichten begegnet. Die erzähle ich ja auch im Buch. Selbstverständlich haben wie die Wölfe aber weder gefüttert noch über Heulen angelockt. Solcherart Manipulationen lehnen wir kategorisch ab.


Du beobachtest nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen.


Natürlich. Wer nicht fühlt, begreift nicht, was er sieht.


Um nochmal auf das Beobachten vom Auto aus zurückzukommen: Ist es nicht problematisch, dass sich die Wölfe daran gewöhnt haben?


Wieso? Sie sehen jeden Tag hunderte geparkter Autos. Somit sind sie doch schon längst an Autos gewöhnt. Autos rollen millionenfach durch ihre Heimat. Und ich persönlich finde den Gedanken nicht gänzlich abwegig, dass Wölfe möglicherweise auch wissen, dass Menschen in Autos sitzen.


Ein Gedanke, der manchem bestimmt Unbehagen bereitet …


Wahrscheinlich. Aber ehrlich? Ich verstehe nicht, warum. Wir können doch nicht allen Ernstes noch immer überzeugt davon sein, dass die einzigen intelligenten Wesen auf diesem Planeten wir und nur wir sind. Zugegeben: Ich habe ganz am Anfang meiner Forschungsarbeiten auch geglaubt, dass Tiere – Wölfe – rein „instinktiv“ handeln und lediglich biologischen Zwängen unterworfen sind, selbst dann, wenn sie kooperieren. Und dann habe ich ihnen zugesehen, und zwar ganz genau, bei den Dingen, die sie in ihrer „Freizeit“ so trieben – und saß ein ums andere Mal fassungslos da und staunte. Je mehr man „drin“ ist in der Beobachtung und je mehr man gesehen hat, desto klarer wird einem, dass man es nicht mit instinktgesteuerten Maschinen zu tun hat, sondern mit Persönlichkeiten. Und dass sie schlau sind, mehr wissen und weit mehr können als wir denken.


Was die Sache mit der Gewöhnung betrifft, so muss zwischen Gewöhnung – also Habituation – und Adaption unterschieden werden. Adaption bedeutet einfach erklärt, dass sich eine ganze Spezies an etwas anpasst und zwar so, dass sie Vorteile aus ihrer Anpassung generiert. Als Kulturfolger haben sich Wölfe schon lange an Menschen, menschliche Infrastruktur und „vom Menschen Gemachtes“ angepasst: Sie leben in unmittelbarer Nähe von Siedlungen und Städten und profitieren beispielsweise davon, dass dort nicht herumgeballert wird. Sie nutzen Straßen und Wege, weil es sich dort angenehmer und schneller fortkommen lässt als im Unterholz. Und sie patrouillierten sogar gezielt Eisenbahngleise ab, auf der Suche nach überfahrenem Wild. „Anpassung an den Menschen“ bedeutet nicht, dass Wölfe alles nur noch nachts tun. Anpassung erfolgt natürlich auch tagsüber. Und sie sorgt dafür, dass sich Wölfe erfolgreicher vermehren können – sehr viel erfolgreicher als sie es könnten, wenn sie sich nicht angepasst hätten.


Und Habituation?


Habituation bezieht sich auf das Individuum. Habituation – Gewöhnung – bedeutet, dass ein bestimmtes Tier auf einen bestimmten Reiz nicht mehr reagiert. Hat sich ein Tier an etwas gewöhnt, verhält es sich so, als wäre das Etwas gar nicht da. Ein Hund, der an Silvesterböller gewöhnt ist, verhält sich so, als würde es gar nicht böllern. Ich weiß, dass Du weißt, dass Habituation nur die eine Seite der Medaille ist und dass Gewöhnung niemals garantiert ist. Misslingt eine Gewöhnung, kommt es zur Sensibilisierung – dann reagiert unser Hund aus dem Beispiel auf jedes weitere Silvesterböllern stärker. Wölfe, die in einer vom Menschen dominierten Umwelt leben, müssen sich adaptiv verhalten dürfen, damit sie überleben können. Adaptation mit Gefährlichkeit gleichzusetzen ist fachlich falsch.


Ist es denn grundsätzlich schlecht, wenn sich Tiere – oder im Besonderen Wölfe – an Menschen gewöhnen?


Wenn die Menschen nicht wären wie sie sind, wäre es gar kein Problem. Es ist keinesfalls so, dass jedes an einen Menschen gewöhnte Tier als nächstes loszieht und den nächstbesten Menschen frisst oder mindestens umbringt oder beißt. Das Tier reagiert nur eben nicht mehr panisch auf Zweibeiner. An diesem Punkt verliert der Mensch aber schon die Nerven und glaubt, das Tier müsse ihn als nächstes beißen, umbringen und fressen – so ein instinktgesteuertes Ding könnte ja vielleicht auch gar nicht anders.


Im Zuge unserer eigenen Zivilisierung und Naturentfremdung ist uns die Gelassenheit im Umgang mit Wildspezies, die uns in vielerlei Hinsicht mindestens ebenbürtig sind, im Großen und Ganzen abhandengekommen. Und wir bekommen sie wahrscheinlich auch nicht zurück, mag die Rückkehr der Wölfe in Deutschland uns noch so große Chancen eröffnen. Denn tatsächlich bleibt immer dieses letzte Quäntchen Unsicherheit: selbst, wenn uns nie jemand etwas zuleide getan hat, können wir eines Tages dem einen über den Weg laufen, der genau das tut. Sei das nun ein Wolf oder ein Handtaschenräuber. Dass nicht jeder, der aussieht wie ein Handtaschenräuber, auch ein solcher sein muss, verarbeiten wir gerade noch. Weil wir aber bei der Erforschung von Tieren – insbesondere Wölfen – viel zu wenig bis gar nicht auf das Individuum schauen, gelingt uns das bei ihnen nicht, beziehungsweise nur extrem unzureichend. Wir glauben ein Wolf ist ein Wolf ist ein Wolf – auch, wenn das so gar nicht stimmt.


Wäre denn eine Art „Persönlichkeitsforschung“ an freilebenden Wölfen überhaupt möglich?


Na klar – genau das haben wir doch gemacht. Unsere Persönlichkeitsforschung macht letztlich ja auch den Zauber unseres Buches aus – es beschäftigt sich ausschließlich mit Individuen, persönlichen Geschichten und „Persönlichkeitsgeschichten“ über Wolfsindividuen wie Faith & Spirit, die unvergessene Blizzard oder die schon dem Tode geweihte Sunshine, die es allen Unkenrufen zum Trotz am Ende schaffte, wie Phoenix aus der Asche zu steigen und ins Leben zurückzukehren.


Stimmt, und Du hast sogar Charaktertests zum Beispiel unter Einsatz einer Bananenschale gemacht …


Charaktertests und Persönlichkeitszuordnungen, genau – und das über Jahre hinweg. Aber verrat' jetzt bloß nicht zu viel, sonst ist für die Leser ja die ganze Spannung dahin … .


Wenn ich mit meiner Forschung dazu beitragen könnte, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass es um die Spezies nicht gehen kann, ohne das Individuum in seiner Einzigartigkeit zu berücksichtigen, das wäre schön. Während die Persönlichkeitsforschung bei Haustieren boomt, steht die Langzeit-Freilandbeobachtung von Wildtieren – die auch und gerade Persönlichkeitsforschung ist oder sein könnte – im Schatten der „neuen“ technischen Möglichkeiten. Das finde ich sehr schade. Denn sie ist der eigentliche Schlüssel, der letztendlich wirkliches Verstehen ermöglicht. Das Familientier Wolf ist solch eine hochinteressante und für das Soziallebewesen Mensch so aufschlussreiche Spezies – wie kann man von der nichts lernen wollen?


Lieben Dank für das Gespräch – und die besten Wünsche und viele Leser für Dein Buch!

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